In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts deutete noch nichts drauf hin, dass Alfed Charles Kinsey einmal einer der wichtigsten Sexualwissenschaftler seiner Zeit werden sollte. Der junge Alfred, der im Jahr 1894 in New Jersey geboren wurde, entwickelte schon früh eine Liebe zur Natur und studierte später gegen den Willen seines Vaters Biologie. Er promovierte in Zoologie und begann seine wissenschaftliche Laufbahn als Entomologe an der Indiana University in Bloomington.
Sein Interesse für das menschliche Sexualverhalten wurde im Jahr 1936 geweckt, als er gebeten wurde, Eheberatungskurse für seine Studenten abzuhalten. Kinsey war erstaunt darüber, wie wenig Informationen es zum Sexualverhalten des Menschen gab und begann mit der Erhebung eigener Daten. Geeignete Fragetechniken mussten entwickelt und Interviewer geschult werden, das Projekt nahm einen immer größeren Umfang an. Im Jahr 1942 gründete Kinsey das „Institute for Sex Research“ der Indiana University in Bloomington (das spätere „The Kinsey Institute for Research in Sex, Gender and Reproduction“) und legte damit den Grundstein für die akademische Sexualforschung.

Mithilfe eines 500 Fragen umfassenden Fragenkataloges interviewten er und seine Mitarbeiter im Laufe der nächsten 15 Jahren über 10.000 Amerikaner über ihre sexuellen Verhaltensweisen. „Es muss deutlich gesagt werden, dass das ursprüngliche Ziel unserer Untersuchung die Erweiterung unserer Kenntnisse auf einem Gebiet war, auf dem es nur beschränkte wissenschaftliche Informationen gab“, sagte Kinsey über seine Forschung.
Die Kinsey-Reports
Seine Befunde veröffentlichte er 1948 und 1953 in zwei Büchern („Sexual Behavior in the Human Male“ und „Sexual Behavior in the Human Female“), die als so genannte Kinsey-Reports einen heftigen Meinungsstreit hervorriefen. Beide Bücher gelten als Meilensteine der Sexualaufklärung und werden von vielen als Auslöser der sexuellen Revolution der 1960er angesehen.
Überraschend und zur damaligen Zeit absolut bahnbrechend waren vor allem seine Erkenntnisse über die ungeheuer große Vielfalt sexueller Handlungen und ihre Verbreitung. Er konnte belegen, dass bestimmte Verhaltensweisen weit häufiger vorkommen als damals vermutet, beispielsweise Homosexualität oder vor- und außerehelicher Sex. Nie zuvor wurde der große Gegensatz zwischen der gesellschaftlichen Sexualmoral und dem tatsächlichen Sexualverhalten derart empirisch festgehalten. Darüber hinaus entwickelte er die so genannte Kinsey-Skala zur Klassifizierung der menschlichen Bisexualität.

Kritik und Ablehnung
Das Aufsehen, das Kinsey mit seinem Werk erregt hatte, führte zu heftigen Angriffen von konservativer und kirchlicher Seite, so dass er durch den religiösen und politischen Druck keine weiteren Forschungsgelder mehr von der Rockefeller-Stiftung erhielt. In den USA sorgte vor allem das Erscheinen seines zweiten Buches über das sexuelle Verhalten der Frau für einen Sturm der Entrüstung: Fellatio, Cunnilingus, Analverkehr und andere Praktiken galten als Tabu-Themen – und Kinsey beschrieb ihre starke Beliebtheit unter den US-Bürgern, obwohl sie im öffentlichen Bewusstsein als unmoralisch galten.
Christliche und konservative Gruppen griffen Kinsey wegen seiner vermeintlich anrüchigen Untersuchungen an. Schon zu Lebzeiten wurde er der verschiedensten sexuellen Perversionen und Straftaten bezichtigt, unter anderem Vorlieben für Gruppensex oder Sex mit Kindern. Diese Behauptungen konnten nie belegt werden, jedoch wird bis heute versucht, Kinseys Forschungen damit zu diskreditieren.
Aus heutiger Sicht war Kinseys Forschung von hohem wissenschaftlichem Wert. Wie Sigmund Freud trug auch Alfred Charles Kinsey maßgeblich zur Enttabuisierung der Sexualität in Nordamerika und Europa bei. Er wandte sich gegen den Konformitätsdruck im Sexualleben und trat dafür ein, alles zu erlauben, solange es einvernehmlich stattfand. Kinsey vermied es in seinen Büchern, das von der Norm abweichende Verhalten als krankhaft, unmoralisch oder kriminell zu klassifizieren. Für ihn gab es nur übliche und seltenere Praktiken, jedoch keine Unterscheidung zwischen normalen und abartigen Formen der Sexualität.
Alfred C. Kinsey selbst schätzte an seinem Lebensende die gesellschaftlichen Auswirkungen seiner Arbeit als gering ein. Sein Ziel der sexuellen Befreiung habe er nicht erreicht, so Kinseys eigene Einschätzung kurz vor seinem Tod im Jahr 1956. Zu diesem Zeitpunkt war die sexuelle Revolution noch nicht in ihrer ganzen Wirkung erkennbar.
Titelbild: ©dpa
Kommentar verfassen