Etwa acht Millionen Menschen in Deutschland sind körperbehindert. Das heißt, sie sind in ihren Bewegungen, ihrem Sprach-, Seh- oder Hörvermögen eingeschränkt – nicht jedoch in ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, welches ihnen ebenso wie allen anderen Bürgern zusteht. Es bedeutet, selber wählen zu dürfen, wie und mit wem die eigene Sexualität gelebt wird. Die Realisierung dieses Anspruchs ist für viele Menschen mit Behinderung aber nicht ganz selbstverständlich, denn die körperlichen Einschränkungen können einem befriedigenden Sexualleben entgegenstehen.
Wie auch alle anderen müssen Menschen mit Behinderung herausfinden können, was ihnen sexuell gefällt und Freude bereitet. Dabei kann es mitunter schwierig sein, den Weg vom eigenen Defizitdenken, das sich um die eigenen Mängel und Schwächen kreist, hin zu einer sich wertschätzenden Persönlichkeit zu gehen. Dazu müssen erst einmal die allgemeinen Qualitäten und Vorstellungen, wie Frauen und Männer zu sein haben, abgeschafft werden: fehlgebildete Gliedmaßen, Inkontinenz, Speichelfluss oder ein Rollstuhl passen nicht zum gesellschaftlichen Bild makelloser und erfolgreicher Schönheit. Umso wichtiger ist es, sich und auch andere zu akzeptieren und eigene Werte zu entdecken und wertzuschätzen.

Ganzkörper-Sexualität
Unter sexueller Erfüllung leiden insbesondere Männer und Frauen, die sich nur mühsam selbst befriedigen können, weil sie zu kurze oder gar keine Arme haben, in ihrer Bewegungsfähigkeit stark eingeschränkt sind oder aber gar keine Empfindungen im Genitalbereich haben. Oft sehen sie sich dadurch in ihrem sexuellen Empfinden eingeschränkt. Dabei hat Sexualität ihren Ursprung nicht in den Eierstöcken oder Hoden, sondern in unseren Köpfen.
In unserem Gehirn entsteht die Idee, etwas Sexuelles erleben zu wollen, und in unseren Gedanken spinnen wir aus, wie das sein soll. Nicht nur der pure genitale Akt ist lustvoll, sondern ebenso das Drumherum, die Fantasien, Wünsche und Gedanken. Orgastisches Erleben ist daher nicht auf die Intaktheit der genitalen Funktionen angewiesen. Es gibt sogar so etwas wie eine Ganzkörper-Sexualität: Mit jedem unserer Sinnesorgane können wir erotische und sexuelle Reize wahrnehmen. Nicht nur die erogenen Zonen, sondern alle Körperbereiche sind in der Lage, auf Stimulierungen sexuell zu reagieren.
Das ist nicht an bestimmte Techniken oder Stellungen gebunden. Im Gegenteil: Die Fähigkeit zum sexuellen Erleben bedeutet vor allem Lust und Entspannung. Es ist nicht vorgeschrieben, wie das geschehen soll.
Dienstleistungen und Hilfsmittel
Führt die Behinderung dennoch dazu, dass das Sexualleben als unbefriedigend erachtet wird, entsteht nicht selten das Bedürfnis nach sexuellen Dienstleistungen.
Einige Betroffene nehmen die Dienste einer Sexualbegleiterin oder eines Sexualbegleiters in Anspruch. Diese widmen sich fast ausschließlich Kunden mit Behinderung an und können auf bestimmte Situationen und Belange angemessener reagieren. Einige Betroffene empfinden die Sexualbegleitung jedoch als weitere Form der Sonderbehandlung und lehnen sie aus diesem Grund ab. Dann kann Prostitution eine weitere Möglichkeit der sexuellen Dienstleistung sein. Auch gibt es inzwischen viele Partnervermittlungen und Onlineportale, welche sich auf behinderte Personen spezialisiert haben.
Auch im Privaten hat der menschliche Erfindungsgeist mittlerweile eine ganze Reihe von Hilfsmitteln bereitgestellt, um das sexuelle Erleben auch für Behinderte zu verbessern: Von Vibratoren, mit denen Selbstbefriedigung variabler zu gestalten ist, über Penisprothesen und erektionsfördernde Spritzen bis hin zu stimulierenden Salben.
Ein etwas innovativeres Beispiel ist der IntimateRider, eine „Funktionshilfe für den sexuell aktiven Mann“. Dieses stuhlartige Gerät wurde speziell für Rollstuhlfahrer entwickelt und setzt die Schwingungen des Oberkörpers in Bewegungen um. Die Sitzfläche bewegt sich durch Bewegung des Torsos hin und zurück, was mehr sexuelle Freiheit und wechselnde Intensität ermöglichen soll:

Eigene Werte erkennen
Ob die Behinderung vom Betroffenen und seinem sozialen Umfeld angenommen wird, hat große Auswirkungen auf das spätere Körpererleben und die eigene persönliche Akzeptanz. Wird die Behinderung als Makel oder Defizit vermittelt, kann dies zur Ablehnung des eigenen Körpers und schweren Minderwertigkeitsgefühlen führen.
Menschen mit körperlicher Behinderung machen sich das Leben leichter, wenn sie sich keinen geltenden Normen unterwerfen, um sich und anderen den Eindruck der Normalität zu vermitteln. Stattdessen könnten sie neugierig sein und alles versuchen, um herauszufinden, wie vielfältig, wie verschieden und variantenreich sexuelles Erleben ist, wenn sich die sexuellen Empfindungen nicht in gesellschaftlich vorgegebene Muster einfügen müssen.
Im zweiten Teil dieses Artikels werden wir uns dem Thema Sexualität und geistige Behinderung widmen.
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